Unsere Würde ist unantastbar

"Die Würde unserer Kinder ist unantastbar."

Meine Mutter Erika und ich,
Ruth Erika Marquardt

Ich bin Ruth.

Neben mir meine Mutter Erika.
Auf diesem Bild bin ich 5 Jahre alt. Meine erste sexuelle Gewalt habe ich mit 6 Jahren erlebt. Bis zu meinem 14. Lebensjahr wurde ich von meinem Stiefvater sexuell missbraucht. Auf diese Weise starb ein Teil meiner Seele. Meine Heilung nach dem Missbrauch war ein langer Weg. Dabei ging es mir immer auch  um die Wiedererlangung meiner Menschwürde.

In diesem Blog geht es um genau das. Er ist mein Aufruf für all jene, die ihre Würde auf die eine oder andere Weise verloren haben. Mein Wunsch ist es, dass sich alle Menschen zeigen dürfen, mit dem was ist. Die Zeit ist gekommen, dass wir aufhören, uns zu verstecken oder zu verstellen.  

Du bist wichtig. Dein Leben ist Teil unserer aller Leben.





Leben - will leben.

So ist meine Geschichte eine vom Erleben und Überleben eines jahrelangen sexuellen Missbrauchs und von einem heute sehr erfüllten und selbstgestalteten LEBEN, mit allen Höhen und Tiefen, die auch dazu gehören. Ich bin Mutter und Caoch, Expertin für Beziehungsfragen und in meinem Leben wie in meiner Arbeit immer auf der Suche nach dem respektvollen Miteinander von Menschen.

Dieser Blog handelt von meinem langen und lohnenswerten Weg. Ein Weg, der andauert und der ermutigen will. Unterstützen. Dir sagen: Ich fühle mit dir. Ich sehe dich. Es lohnt sich, weiter zu gehen.

Komm, wir jagen Gespenster!

Auch wenn ich heute sehr bewusst auf mein Leben schaue, gibt es noch immer Spuren dieser alten Gespenster, die mich jahrzehntelang gefangen gehalten haben. Als würden sie immer noch flüstern, wenn auch viel leiser: Was könnten die anderen sagen, wenn sie das von mir wissen?

Es ist die Angst, die viele missbrauchte oder vergewaltigte Frauen (und auch Männer) teilen: Die Angst vor Ablehnung, die Angst davor, als in irgendeiner Form beschädigt oder als "irgendwie verrückt" angesehen zu werden. Die Angst, nicht dazu zu gehören.

Und zugleich weiß ich aus meiner eigenen Arbeit heute mit verletzten Menschen, mit betroffenen Frauen, wie erleichternd es ist, endlich sein zu dürfen mit der eigenen Geschichte, auch mit dem Schmerz, den Schuld- und Ohnmachtsgefühlen. All dies nicht verstecken zu müssen - denn wir alle sind nicht allein mit unserer Scham, unserer Ohnmacht, den alten Wunden und Narben, dem akuten Schmerz. Wir alle haben diese oder andere Wunden durch das Leben davongetragen. Und wir sind mit all unseren unterschiedlichen Makeln vor allem eins: Menschen. Unfassbar liebenswert und oft unglaublich stark. Wer eine solche Geschichte erlebt und überlebt, hat eines ganz besonders. Stärke.

Deine Geschichte mit deinen großen und kleinen Narben kenne ich nicht. Aber ich möchte dich ermuntern, sie zu teilen und dazu stehen zu können, während du mehr und mehr im Leben deinen Platz in Würde einnimmst. Meine Geschichte ist traurig aber auch wunderschön und facettenreich. Wie das Leben selbst. Sie ist eine Geschichte der Befreiung und des selbstbestimmten Wachsens. In das Leben hinein. Und ich schreibe hier aus Hingabe an das Geschenk des Lebens. Aus dem Wunsch, diese Lebens-Liebe mit dir zu teilen. In der Hoffnung, dir auch Mut zu machen für dein Leben, wer auch immer du bist, was auch immer für Spuren das Leben in dir hinterlassen hat.

Setz dich zu mir lausche meiner Geschichte, wenn du magst. Und wenn du willst - erzähl mir von dir. Ich bin Ruth.

Ruth - bedeutet "Freundschaft"

Meine Mutter nannte mich Ruth - nach ihrer eigenen besten Freundin, die sie als junge Frau in Bethel gefunden hatte, einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Bethel, so habe ich als Kind verstanden, war so etwas wie ein Synomym für Heilanstalt. Dorthin, so dachte ich als Kind, gingen Verrückte oder Kranke und sie wurden dort irgendwie versorgt oder medikamentös behandelt.
Meine Mutter litt nach dem Krieg viele lange Jahre unter Epilepsie. Sie hatte im Krieg ihren Vater verloren und konnte nur mit ihrer Mutter, ihrer Halbschwester und der jüngeren Cousine fliehen. Aber Halt, so scheint es mir heute aus der Erinnerung, fand sie insbesondere bei ihrer Freundin Ruth.

Stell dir vor, du bekommst einen seltenen und unfassbar altmodischen Namen - auch noch biblisch. Schrecklich! Lange Jahre fand ich diesen Namen ganz furchtbar. Biblisch, altmodisch. Hänseleien waren in der Schule an der Tagesordnung. Rüthchen - Schnütchen, war noch das freundlichste.
Viel lieber hätte ich Andrea oder Sandra geheißen. Damals.

Als ich als junge Sprachstudentin irgendwann einmal die Bedeutung meines Vornamens in einem Wörterbuch nachschlug und sah, was mir meine Mutter da namentlich vererbt hatte, wurde ich plötzlich ganz still. Ich stand dort in einem Gang dieser Bibliothek in Köln und Tränen liefen mir die Wange herunter, so sehr bewegte mich dieser Fund. Meine Mutter, von der ich immer geglaubt hatte, sie müsse mich abgrundtief gehasst haben, hatte sich vielleicht tatsächlich etwas dabei gedacht, mir den Namen ihrer eigenen besten Freundin zu geben, als sie mich 1967 allein, also ganz ohne Mann, zur Welt brachte.

Ich mach was draus, Mama

Das Erbe meiner Mutter habe ich angetreten. Sie hat mir gegeben, was sie konnte. Das war häufig von außen betrachtet wenig. Materiell gesehen. Aber die Stärke, ihren Sinn für Gerechtigkeit. Ihr Nicht-Aufgeben-Wollen, Ihre Kämpferseele, die habe ich von ihr. Meine Freude und meinen Lebensmut - vielleicht habe ich ihn von meinem Vater? Was soll's. Ich habe ihn. Und dafür bin ich dankbar. Und mache etwas aus meinen Gaben.

Heute bin ich selbst  Mutter, und vor allem auch stolze Mutter einer großartigen Tochter. Seit geraumer Zeit war ich auf der Suche danach, mich im Bereich des Kinderschutzes zu engagieren. Das tue ich nun seit Anfang 2017. Als ehrenamtliche Botschafterin einer großartigen Stiftung mit dem Namen It's for Kids. Ich für Kinder. In einer tollen Gemeinschaft mit Menschen, die ein großes Herz haben, Müttern, Vätern, Schauspielern, Profi-Sportlern - wir alle für eine bessere Geschichte unserer Kinder.
 

Warum mir das so wichtig ist? Weil der Schutz unserer Kinder unser aller vorrangige Aufgabe sein sollte. Unsere Kinder zu schützen, heißt unsere Zukunft auf gute Beine zu stellen. Achtsam und respektvoll mit unseren Kindern zu sein, bedeutet starke und selbstbewusste Menschen in die Welt zu entlassen, damit sie bewusst und voller Würde die großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Es ist eine Form von Friedensarbeit. Ich tue es auch für mich und meine Familien-Linie. Um das Schweigen in unserer Familie zu brechen, denn ich bin nicht die einzige Frau in unserer Familie, die sexuelle Gewalt erfahren hat. Ich tue es für alle Frauen (und auch Männer), damit wir die unselige Kette aus Gewalt und Grenzüberschreitung bewusst unterbrechen.

Missbrauch geschieht, wenn wir schweigen. Das Ende des Schweigens bedeutet, uns selbst und unsere nachfolgenden Generationen zu stärken und zu schützen. 

Stark sind wir gemeinsam in Freundschaft

Meine Mutter Erika ist die 2. von links
hier mit ihrer Halbschwester,
ihrem Vater und ihrer Mutter
Mir ist es mit viel Arbeit, guten Therapeuten und Vorbildern, liebevollen Menschen und einer unfassbaren eigenen Sehnsucht, einem Hunger für das Leben gelungen, aus meiner traumatischen Geschichte ein gutes respektvolles und erfülltes Leben zu gestalten. Ich habe durchgehalten, geträumt, gelitten, nicht verstanden, gelernt und bin immer weiter gegangen. Aufgeben, auch wenn es manchmal verlockend schien, war keine Option für mich. 
Und ja -  ich bin mir darüber im klaren, dass es nicht selbstverständlich ist, aus dem Sumpf aus Depressionen, Lebenmüdigkeit, Scham, Schuldgefühlen und all den inneren Vorwürfen auszusteigen und dem Leben aus tiefer Seele ein uneingeschränktes JA entgegen zu schmettern.

Vielleicht hatte ich ein wenig Glück. Vielleicht ist es mein Schicksal, meine Gabe, meine Aufgabe. Was auch immer es ist: Ich habe ich einen Weg gefunden, meinem Leben eine eigene und würdevolle Richtung zu geben, auf die ich heute mit Stolz blicke. 

Versteh' mich richtig - ich sehe mich weder als Heldin noch als unfehlbar. Jedoch werde ich mir jeden Tag mehr meiner Gabe oder Auf-Gabe bewusst, aus meinem Leben etwas zu machen, das über mich selbst hinaus geht. Mit dem, was ich erlebt habe, etwas zu gestalten, der Welt in einem kleinen Bereich etwas mitzugeben.

Und wenn es mir gelingt, dich dazu zu ermutigen, dich zu zeigen, dich zu verbinden in Freundschaft, dich zu stärken in einer respektvollen Gemeinschaft, dann ist viel gewonnen.

Mit meiner Geschichte, diesem Blog, möchte ich anderen Frauen und Männern, Jungs und Mädchen, Mut machen. Es kann funktionieren. Damit diese tiefen Wunden heilen, damit Scham und Selbsthass einer Form von Liebe zu dir selbst weichen können, damit der Wunsch zu sterben, sich in einem Winkel deines Lebens zu verstecken, sich wandeln kann in einen Wunsch nach Liebe zum Leben - hierzu braucht es vielleicht für jeden etwas anderes. Was es für mich gebraucht hat und bis heute braucht, das will ich gern erzählen, wenn du es lesen willst.

In diesem Blog schreibe ich einen Teil meiner Geschichte auf. Stück für Stück. So wie ich sie in Erinnerung habe. In dem Vertrauen darauf, dass du respektvoll damit umgehst. 

Ich habe mit allem Recht, was ich schreibe, denn ich schreibe von meinem ganz eigenen Erleben, von meinen Gefühlen, von meinem Weg. Der so war für mich. Vielleicht kannst du es verstehen, vielleicht nicht. Das spielt keine Rolle. Respektiere einfach meinen Weg.

Andere Wege dürfen anders sein. Meine Wahrheit, wie ich sie erinnere, mein Leben, wie ich es gestaltet habe und wie es mich formte - hat seine ganz eigene Wahrheit.

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich dir wünschen, dass du die Geschichte liest und sie dir Mut macht, das Leben nicht liegen zu lassen. Wenn das für nur einen Menschen gelingen könnte, wären mein Leben, meine Geschichte, mein Beispiel schon viel wert.

Voller Liebe für meine Tochter, der ich von Herzen das Allerbeste für ihr eigenes Leben wünsche.
Und voller Liebe für alle Menschen, die wir Töchter und Söhne sind.

Mögen wir in Frieden und Respekt leben dürfen.


Ruth 





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